Die Insel

Auch wenn ich es damals noch nicht wusste, so weiß ich heute, dass die Insel der Anfang war. Wenn man klein ist, scheint anderes groß. Die Insel war groß - groß und schrecklich, meine erste Begegnung mit der Ewigkeit. Ewig vielleicht deswegen, weil alles andere verging, während die Insel blieb.
Eine Schulreise, die Tasche mit dem Proviant umgehängt, die bunten Sonnenhüte, Ausgelassenheit im Postauto, beim Gänsemarsch durch das Städtchen, auch noch beim Parkplatz und beim Fußballfeld, selbst auf der schmalen Hafenbrücke. Dann aber entrückt die Welt, das rote Haar der Lehrerin brennt im Sommerlicht, Möwen lachen traurig, es riecht nach nassem Holz, nach Gestern, nach ziehenden Wolken. Ein Wind streift durch die Schilfwälder, die beidseits des Weges Moorfeldern entwachsen. Der Wind trägt Stimmen, ganz leise, niemand hört sie, nicht die Mitschüler, nicht die Lehrerin. Sieht sie nicht, dass ihr Haar brennt, dass grellrote Lohen ihr Gesicht ertasten? Sieht niemand die Welt eine andere werden? Es ist Mittag, doch hier ist Abend, vielmehr das Abbild eines Abends, der einmal war, ein müdes Jahrtausend vorher. Der Heideweg lässt sich nicht überblicken. Hinter jeder Biegung beginnt eine neue Flucht. „Auf unsres Lebens Weg grad in der Mitte fand ich in dunklem Wald mich ohne Spuren, weil nicht auf grader Straße mehr die Schritte." Dante werde ich zwanzig Jahre später zu Rate ziehen, jetzt aber gibt es keine Dichtung, die mich retten kann, kein Dichter, der noch was zu sagen hat, bevor die tragenden Säulen unter dem Gewicht der Erinnerung zusammenbrechen. Mir scheint, es werde dunkel, doch keine bedrohliche Dunkelheit ist es, vielmehr eine schützende, wie die kühle Hand einer Mutter auf der Fieberstirne ihres Kindes. Die Birken am Wegesrand neigen sich und ziehen den Sommerhimmel nieder, ein Zelt aus flimmernden Blättern. Wie weich das Licht sich auf die schmalen Kindernacken legt, und allen voran die Lehrerin, schön wie eine verlassene Göttin aus Geschichten, die ich noch nicht kenne. Längst bin ich alleine. Die anderen sind zurückgeblieben, irgendwo dort hinten. Manchmal höre ich ihre Stimmen, die Ermahnung der Lehrerin, den Weg nicht zu verlassen. Dort draußen ist der Boden weich, hört ihr? Die Erde kann euch nicht halten.


"... wie eine verlassene Göttin aus Geschichten, die ich noch nicht kenne."

Später kommen offene Felder, der Blick reicht nicht mehr bis auf den See hinaus, er bleibt vorher hängen, an mistelbewehrten Eichen, oder er geht darüber hinweg und stößt auf die dunklen Flanken der Rebberge. In den Wäldern dürfen die Kinder freier gehen, hier hat es kein Moor, das sie verschlingen kann (und ihre Mütter würden fragen, wo – wo ist mein Kind geblieben?). Es hat einen Hügel, Wildwechsel und Kaninchenburgen. Ein Franzose hat sie hier ausgesetzt, die Kaninchen, sagt die Lehrerin. Sie zeigt gegen Westen, weil der Franzose von dort kommt, doch die Kinder schauen zu ihr, denn sie wissen, dass einzig sie den Weg noch kennt, als ahnten sie: Wir sind anderswo, und die Welt ist draußen geblieben bei den Rebbergen oder dort hinten in den Dörfern, die uns fremd geworden sind.
Beim Kloster hat es einen Ziehbrunnen. Seine Wände sind aus gelben Steinen, auf denen weit unten, nahe der Wasseroberfläche, das Licht spielt. Es kommt aus der Tiefe, dieses Licht, nicht von oben, nicht von der Sonne, wie die Lehrerin erzählt. Ich halte den Kopf in den kühlen Schacht und beobachte die tanzenden Lichter. Dort unten liegt ein Himmel versteckt. Der Brunnen ist ein Durchgang. Man könnte durch ihn nach oben fallen, hinauf in Wiesen im Sonnenschein, wo eine Frau im großen, weißen Frühling steht, Kirschblüten fallen wie aus Kissen geschüttelter Schnee auf sie nieder, und sie sagt, hier beginnt die Welt. Die Lehrerin sucht mich, ruft nach mir. Die anderen Kinder haben sich bereits in den Schatten gelegt und ziehen weich gewordene Schokoladenriegel aus dem Silberpapier. Ich bin hier, antworte ich der Lehrerin und merke, dass sie mich nicht hört, denn es stimmt nicht, dass ich hier bin. Die kühle Brunnentiefe ist nah, ich berühre sie mit meinen Augen, meine Stimme versinkt, fällt wie ein Bleigewicht dem Dunkel entgegen. Das Wasser schmeckt nach Steinen und nach Regen. Nur ein wenig weiter noch, dann sehe ich die blühenden Bäume, den Morgen und den Frühling. Man hat es mir versprochen, sage ich und weiß nicht, was man mir versprochen hat und wer. Die Lehrerin fasst mich an der Schulter. Du musst kommen, die anderen warten. Ich frage mich, auf was sie warten. Ist denn nicht alles bereits hier, auf das man warten könnte? Man braucht nur danach zu greifen, vom Beerensaft verschmierte Hände, die im Unterholz nach süßen Früchten wühlen. Die Walderdbeeren verstecken sich gut, als hätten sie gewusst, dass man eines Tages nach ihnen suchen würde. Aber ich finde sie und pflücke sie doch nicht. Die Zeit ist noch nicht gekommen. Jahre müssen noch vergehen, lange Nachmittage, die sich zu einer bitteren Einsamkeit zusammenballen, bis unter ihrem Gewicht die Türen bersten und man rennt, rennt wie nie zuvor, um endlich nach Hause zu finden.
Dort hat alles begonnen. Von dort stiegen alle Fragen wie aufgeschreckte Vögel in diesen weiten, schweren Seelandhimmel, der meine Augen fing und nicht mehr hergab. Die Fragen fielen mit dem Regen auf die Felder und wuchsen zu schlanken Birken heran. Sie hüllten sich in die Herbstnebel, diese nach Moos duftenden Geister, die in den Wäldern einen Fürsten suchten und doch nur Diener fanden. Als Sternenwinde flogen sie durch die Winternächte, spielten im Gefieder der Krähen, spielten im Haar meines ersten Mädchens, das wusste, wo der Weg beginnt und wo er endet. Einige der Fragen hielt sie mir in ihren Händen hin. Dort schimmerten sie wie Schätze aus der Unterwelt. Zwei Sternschnuppen waren es, die Schweife aber verblassten schon, denn ich hatte sie zu fassen versucht, was sie nicht ertrugen. Später dann fragte sie, warum hast du das getan? Ihr Blick ein Abschiednehmen. Ich wusste keine Antwort, und die Insel wurde ein locus terribilis, ein Wegweiser in den Abgrund langen Kummers. Auch das war dort. Auch das.
Alles drehte und wendete sich. Gesichter erschienen in diesem schwarzen Wirbel, tauchten aus den Wellen auf wie unverhofftes Strandgut. Es waren Schiffbrüchige. Sie hofften, die Flut möge sie hinaustragen in die schnellen Strömungen. Aber kalt ist es dort, sagten sie, bevor sie mich verließen, so kalt. Ich versuchte, die Gesichter zu bewahren, sie in mir festzuschreiben, ihnen Orte zuzuweisen, die sie nicht mehr zu verlassen brauchten. Das war eine große Arbeit, und ich brauchte ein Archiv, ein Lapidarium der Gesichter. Die Insel bot mir ihre langen Wege. Ich bin ein altes Grab, meinte sie, wenn ich in der anbrechenden Dunkelheit ihre geheimen Kammern betrat, um ihnen meine Erinnerungen anzuvertrauen.

Die Insel war der Anfang. Sie erhob sich aus der Kälte. Riesen ertasteten ihren Leib und sagten, sie wird bleiben. Einmal werde ich müde sein. Dann lege ich mich in ihren Frühling nieder und schlafe wie ein Burgunderkönig, der in einem Sarkophag aus Jurakalk auf ein Erwachen in helle Hallen wartet.



 

 








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